Dieses Märchen habe ich vor etwa 20 Jahren geschrieben und illustriert in einer Mischtechnik aus Aquarell und Kreiden, auch Farbstiften.

Weil es nicht verlegt worden ist, hab ich es in den Papierschrank gelegt und vergessen. 

Aber jetzt hab ich es wieder gefunden. Viel Vergnügen beim Anschauen und Lesen wünsche ich!

Das Märchen vom Ungeheuerchen

 

Es war einmal eine Königin, die wünschte sich ein Kind, konnte aber keines bekommen. Eines Tages ging sie in den Wald und setzte sich ans Ufer eines Baches. „Ach“, seufzte sie, „wenn ich nur ein Kind hätte. Am liebsten eine Tochter.“

„Wenn’s weiter nichts ist“, quarrte eine Kröte, die auf einem Stein im Bach saß. „Du sollst sie bekommen." In dem Moment trieben die Wellen ein paar Tierhaare vorbei. Sie blieben am Kleid der Königin hängen. 

 

 

Nach einiger Zeit gebar die Königin ein Kind, das war aber über und über mit einem zarten Pelz bedeckt, nur sein Gesicht nicht. Der König wurde zornig. Was für ein Ungeheuer hatte ihm seine Frau da geboren? Er ließ die Königin von hohen Felsenschloss ins Meer hinab stoßen. Ein großer Fisch kam geschwommen, der riss sein riesiges Maul auf und verschluckte die Königin. 

 

 

Weil die Jagdhündin des Königs gerade Junge bekommen hatte, ließ der König das kleine Ungeheuerchen zu ihr legen. Das Königskind gedieh bei seiner Ziehmutter, es wuchs heran und spielte mit seinen Hundegeschwistern.

 

 

Eines Tages beschloss der König, wieder auf die Jagd zu gehen. Die Pferde wurden gesattelt und die Hörner geblasen. Die Jagdhunde liefen voraus, das Ungeheuerchen hinterher. Die Jäger erlegten einen jungen Bären, banden ihn an eine Stange und trugen ihn aufs Felsenschloss. Als Ungeheuerchen entdeckte, dass niemand mehr da war, rief es: „Wo seid ihr? Lasst mich nicht allein!“ Aber niemand hörte es. Kein Hund, kein Jäger und auch nicht sein Vater, der König.

 

Ungeheuerchen irrte umher und geriet immer tiefer in den Wald. Da vernahm es ein Bummen und eine riesige Bärin stand vor ihm. Ungeheurchen erschrak, aber die Bärin tat ihm nichts zu Leide. Sie fragte: „Wer bist du?“

„Man nennt mich Ungeheurchen“, war die Antwort. „Mein Vater hat mich vergessen und eine Mutter habe ich nie gehabt.“

„Dann will ich dein Mutter sein“, sagte die Bärin und nahm Ungeheuerchen an Kindes statt. Denn ihr eigenes, der junge Bär, war von den Jägern des Königs erlegt worden.

 

Die Bärin führte Ungeheuerchen zu ihrer Höhle. Dort verbrachten sie den Winter. Das Kind lag geborgen und warm am Bauch der Bärin. Sie schliefen tief und fest bis der Frühling kam.

 

Nun zeigte die Bärin dem Ungeheuerchen wie man auf Bäume klettert, wie man Fische fängt und nach Wurzeln gräbt und welche Früchte gut schmecken. Ungeheuerchen erfuhr alles, was eine junge Bärin wissen muss. Es lernte zupacken und wurde dabei groß und stark.

 

 

 

 

 

 

 

Bald kam eine silbergraue Wölfin, deren Junge die Jäger des Königs gefangen hatten.

 

„Lasst mich bei euch bleiben“, bat sie. Die Bärin nahm auch sie in ihre Höhle auf. Die Wölfin lehrte Ungeheuerchen, wie man Witterung aufnimmt, einer Beute hinterher läuft, die Zähne zeigt und vor den Jägern des Königs flieht. Ungeheurchen erfuhr alles, was eine junge Wölfin wissen muss. Es lerne zubeißen und wurde noch größer und stärker und schneller.

 Der Fisch, der einst die Königin verschluckt hatte, hatte sie zur Insel der Meerfrauen gebracht. Die nahmen die Königin freundlich auf. Mit der Zeit war der Königin sogar ein Fischschwanz gewachsen. Aber eines Tages saß sie traurig auf einem Felsen.

„Ich muss euch verlassen, liebe Schwestern“, sagte die Königin, „ich habe solche Sehnsucht nach meinem Kind.“ Die Königin schwamm durch das weite Meer bis zum Felsenschloss. Aber war ihre Tochter nicht mehr. So war sie weiter die Flüsse hinauf und durch Seen hindurch geschwommen, in Weihern aufgetaucht und in Bäche hinein. 

 

So lebten sie zu dritt, bis eines Tages ein furchtbares Gewitter den Bach anschwellen wild brausen ließ. Ungeheuerchen saß mit Mutter Bär und Tante Wolf in der trockenen Höhle. Die beiden Tiere lauschten.

„Ungeheuerchen, da ruft dich jemand“, sagte die Bärin.

„Das ist der Regen, der rauscht“, sagte Ungeheuerchen.

„Da ruft dich jemand“, sagte die Wölfin.

„Das ist der Bach, der braust“, entgegnete Ungeheurchen.

„Geh und schau!“, befahlen die Tiere. 

Da ging Ungeheuerchen hinun-ter zum Bach und eine Gestalt tauchte aus dem Wasser.

„Wer bist du?“, fragte es.

„Ich bin deine Mutter“, antwortete die Wasserfrau. „Endlich habe ich dich gefunden, liebe Tochter."

 

Ungeheurchen lachte und weinte vor Freude. Sie sprang in den tosenden Bach, umarmte ihre Mutter und küsste sie. Da fiel ihm der Pelz vom Leib. Das Wasser trug ihn fort. Auch der Fischschwanz der Königin verschwand und sie bekam ihre Menschenfüße wieder.

 

Ungeheurchen sagte zu Mutter Bär und Mutter Wolf: „Schaut, das ist meine Menschenmutter.“

Da freuten sich alle von Herzen und hatten ein schönes Leben miteinander. Abends sang Mutter Wasserfrau Meerfrauenlieder, kämmte Ungeheurchen das lange Haar und flocht Blumen hinein. Nun lernte Ungeheuerchen alles, was eine junge Menschenfrau wissen muss. Es war groß und stark und schnell – und wurde nun klug und schön dazu.

 

 

In einem anderen Königreich durfte der Prinz zum ersten Mal auf die Jagd.

Die Pferde wurden gesattelt und die Hörner geblasen. Alle freuten sich.

 

 

 

Nur die Königin nicht. Sie fürchtete, ihren Sohn, den Prinzen, nie mehr wieder zu sehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weil der Prinz so ungeduldig war, dauerte es nicht lange, da war er seinen Leuten weit voraus. Plötzlich sah er eine große, silbergraue Wölfin. „Hussa!“, rief er, „was für eine Beute, die muss ich haben!“ 

 

 

Als das Unterholz zu dicht wurde, sprang er vom Pferd und drang zu Fuß weiter. Er ließ sich nicht aufhalten, denn immer wieder schimmerte vor ihm das helle Fell der Wölfin, die ihn immer weiter in den wilden Wald lockte.

 

 

Es war schon Nacht geworden, da strauchelte der Prinz. Er verlor den Halt und stürzte tief in eine mit Dornen bewachsene Schlucht. Wohl konnten sie seinem gepanzerten Leib nichts anhaben, jedoch das Gesicht wurde blutig zerkratzt. Er konnte sich nicht mehr bewegen, es war ihm als seien ihm die Glieder gebrochen. In seiner Not rief der Prinz laut um Hilfe. Aber wer sollte ihn wohl hören, so allein und tief im wilden Wald.

Die Wölfin war zur Höhle zurück gelaufen und sagte: „Ungeheuerchen, da ruft dich jemand.“

„Das ist der Wind, der saust“, entgegnete das Mädchen.

„Da ruft dich jemand“, sagte die Bärin, „hörst du nicht?“

„Das ist der Bach, der rauscht“, antwortete es.

„Geh und schau!“, befahl Mutter Wasserfrau.

Ungeheurchen gehorchte und ging hinaus. Es kam zu dem Ort, an dem der Prinz hilflos lag.

Das Mädchen erschrak sehr und rannte zur Höhle zurück. „Mutter, ich habe ein Ungeheuer gesehen. Es ist mit Leder und Eisen bedeckt, hat ein blutrotes Gesicht und brüllt fürchterlich.“

Da gingen alle zusammen hin, befreiten den Prinz aus den Dornen, trugen ihn zur Höhle und betteten ihn auf ein Lager. Der Prinz zitterte vor Furcht. Er fieberte und meinte, Feuerflammen würden ihn verbrennen und wilde Tiere wollten ihn fressen. Ungeheurchen pflegte ihn mit Heilkräutern, Mutter Wasserfrau fütterte ihn mit den Vorräten, die die Bärin und die Wölfin gesammelt hatten und sang ihn in den Schlaf.

 

Als der Winter vergangen war, war der Prinz wieder gesund.

„Es ist Zeit, dass du nach Hause gehst“, sagte die Bärin.

 

„Lass mich deinen Pelz kämmen“, bat der Prinz, denn es gefiel ihm bei den Tieren und er wollte gerne noch ein wenig bleiben. 

 

 

„Mach dich fort“, knurrte die Wölfin.

 

„Aber du hinkst ja“, sagte der Prinz. „Sicher hast du einen Dorn in der Pfote. Lass mich ihn heraus ziehen.“

 

Dann ging der Prinz hinunter zum Bach. Dort lag Ungeheuer-chen am Ufer und sah ins Wasser. "Willst auch du mich wegschicken?“ fragte er.

„Nein“, sagte das Mädchen. „Ich möchte, dass du bei mir bleibst, denn ich hab dich lieb gewonnen.“

Sie bekamen drei Kinder, die hatten gleich vier Großmütter: eine Bärin, ein Wölfin, Mutter Wasserfrau und die Mutter des Prinzen. So lebten alle glücklich und zufrieden bis an ihr

 

 

Ende

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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