Wie mein Großvater das Ende des 1. Weltkriegs erlebt hat, will ich berichten. 1918 war er einundzwanzig. Fast wäre er nicht mehr heimgekommen, denn er lag, von der Malaria geschüttelt, in Istanbul im Quartier. Ein Kamerad hat ihn in letzter Minute aufs Schiff geschleppt. Dem verdanke er sein Leben, hat er uns Jahrzehnte später am sonntäglichen Kaffeetisch erzählt.
Er erzählte uns noch einige Stückl aus seinem Krieg im Heiligen Land, aber keines, in dem Lawrence von Arabien vorkam, denn er wußte wohl nicht, dass sie ursächlich miteinander zu tun hatten.
Mein Großvater Fritz Kollmuß, wurde am 10. März 1897 in München geboren. Sein Vater war Lorenz Kollmuß, königlicher Straßenwärter und seine Mutter Maria, eine geborene Rid und Straßenwärtersgattin. Sie gebar Fritz, ihren Sohn, als unehelichen Bankert in München. In Weilheim wär es unmöglich gewesen. Erst als der Kleine vier Jahre alt war, heirateten seine Eltern.
Auch Lawrence war unehelich, sein Vater schwängerte die Kinderfrau und zeugte noch 4 weitere Söhne mit ihr. Mein Urgroßvater noch weitere 5 Töchter mit seiner Frau, aber alle ehelich. O-Ton: „Mei Liaber, die Pritschn kostn mi a Haufen Geld.“ Wegen der Aussteuer, die den Mädchen zustand.
Thomas Edward Lawrence studierte Geschichte in Oxford, während mein Großvater eine Lehre als Elektriker in Weilheim absolvierte. Das prädestinierte ihn auch wohl, als Funker ausgebildet zu werden.
1914 war mein Großvater siebzehn. Das bayerische Kriegsministerium suchte geeignete Kanditaten für den Dienst in der Osmanischen Armee und schlug sie dann der preußischen Militärbehörde vor. Sie sollten neben der Tropendienstauglicheit auch über gute Kenntnisse des Französischen, der Lingua franca des Orients, verfügen. Ich vermute, dass man es ihm rudimentär in Straßburg beibrachte, von wo er im Oktober 1914 zwei Postkarten an seine Eltern schrieb. Offiziere sollten kein heftiges Temperament aufweisen, Mannschaftsdiensgrade keine Geschlechtskrankheiten, aber ein gutes Gebiss.
Obwohl Bayern bereits Teil des deutschen Kaiserreichs war, behielt es das eigene Militär. Eine Extrawurst, die es bairischen Soldaten ermöglichte, dem „kranken Mann am Bosporus“ beizustehen. Es waren Artilleristen, Flieger, Kraftfahrer, Sanitäter, Eisenbahnbauer, Dolmetscher und nicht zuletzt Funker, zu denen mein Großvater gehörte. So entging er den Schlachtfeldern in Frankreich und gelangte ins Heilige Land, wie er Palästina nannte. Aber es war kein Zuckerschlecken.
So schrieb er seiner Cousine am 3. November 1916 „Ja, diese Tropen haben mich schon schwer mitgenommen. Wenn ich meine Photographie betrachte, wie blühend ich in Berlin aussah, und jetzt ... Ganz braun verbrannt, und überall stehen die Knochen heraus, dass man einen Hut aufhängen könnte. ... Den Humor habe ich aber noch nie verloren. Sonntag nachmittags wird Zither gespielt und gesungen, dass es uns eine Freude ist. ... Vor einigen Wochen musste der erste unserer Kameraden bei der Station 4 ins Gras beißen. Er starb in Jerusalem im Lazareth (Typhus). ...Von dem allem, was ich dir hier geschrieben hab, was mein Aussehen und das übrige anbelangt, darfst du meinen Eltern selbstverständlich nichts mitteilen, denn Mutter würde sich sonst zu sehr grämen. Nach Hause schreibe ich ja immer, es geht mir gut ... Es wird schon werden, wenn wir bloß erst wieder in Deutschland sind und wenn einmal wieder Friede ist!!“
Die Türken waren drauf und dran, ihr Weltreich zu verlieren ... Die Engländer, auch die Franzosen, knapsten Gebiete ab und wollten sich Palästina einverleiben. Da kommt Lawrence ins Spiel.
Aus Wikipedia, gekürzt: Von 1911 bis 14 war Lawrence als Student an Ausgrabungen in Palästina beteiligt und erlernte dabei die arabische Sprache. Damals begegnete er erstmals der etablierten Archäologin und Landeskennerin Gertrude Bell, die er später im Geheimdienst wieder treffen sollte. Im Norden Syriens entstand seine schwärmerische Liebe zu den Beduinen, die ja nicht frei, sondern von den Osmanen beherrscht waren. Im Januar 14 schloss sich Lawrence einer archäologischen Expedition durch die Negev-Wüste an, die dem engl. Geheimdienst nützlich war ... Im Juni des Jahres 1916 rief der Emir von Mekka mit seinen Söhnen einen Aufstand gegen den osmanischen Sultan aus. Einer der Söhne war Faisal I., mit dem sich Lawrence befreundete. Man übernahm Taktiken des Guerillakrieges, da die Beduinen für offene Feldschlachten nicht geeignet waren. Man beschränkte sich auf Überraschungsangriffe auf kleinere Miltiärposten und Sprengstoffanschläge auf die Hedschabahn, einer Eisenbahnlinie von Damaskus bis Medina.
Und jetzt ist wieder mein Großvater dran. Er schrieb am 26. November an seine Cousine: „Vorige Woche musste ich Verpflegung und Sonstiges zu meiner in Deerat befindlichen Station bringen. Und schloss mich in Jerusalem einem Transport deutscher Minenwerfer an. Am See Genesareth geriet ein Wagen mit Minen durch Heißlaufen einer Achse in Brand (Wenns wahr ist. Ich könnte mir vorstellen, dass man den Soldaten einen Sabotageakt aufständischer Araber verschwiegen hat).
„600 Minen wurden dadurch zur Explosion gebracht. Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen“, schrieb 19-jährige Fritz. „Von 54 Deutschen waren noch 22 unverwundet davongekommen. 7 Wagen wurden zerstört, davon zwei so, dass überhaupt nur mehr einige Räder zu finden waren. Ich war zufällig auf dem vorletzten Wagen. Es war ein offener Güterwagen, darauf ein Lastauto und Sonstiges verladen. Ich wurde im Moment der Explosion zurückgeschleudert, bin aber im nächsten Moment schon in Deckung unter dem Auto gewesen. Da kam aber auch schon ein ganzer Regen von Sprengstücken an. Nach der Explosion suchten wir gleich die Verwundeten und Toten zusammen. 15 von uns waren tot, 17 leichter und schwer verwundet. Arzt war keiner zur Stelle und Verbandszeug alles verbrannt. So mussten wir uns mit allem Möglichen behelfen. Zum guten Glück konnten wir die Verwundeten mit Segelbooten nach Tiberias schaffen. Dort war ein Krankenhaus. Die Toten begruben wir am See Genesareth. Als abends die Bahnverbindung wieder hergestellt war, konnten wir weiter fahren und ich kam am übernächsten Tage glücklich in Deerat bei der Station an, wo sie mich schon fast nicht mehr unter die Lebenden zählten.“
Er erhielt er einen Orden, dokumentiert auf einem vergilbten Zettel: „Vorläufiger Besitzausweis“ In Anerkennung seiner Verdienste habe ich im Namen S.M. des Sultans dem Funker Kollmuss den Eisernen Halbmond verliehen. Tell-Scheria, den 6. Mai 1917. Mit breiter Feder unterschrieben: von Kress, darunter gedruckt: Oberst und Kommandeur des 1. Expeditions-Korps etc. Es war „Kress Pascha“,1916 an der Palästina-Front. Der Orden lag während meiner Kindheit in einer Kruschschachtel im Wohnzimmer-Buffet.
Der Opa hatte einen tragbaren Funkapparat für das Feld, das war so ein Holzkasten und wog 70 kg. Sein Spruch am Kaffeetisch: „Wir haben auch Haschisch geraucht. Mein Lieber, da hast morsen können. Das ist fix gegangen!“
Ich fand einen Urlaubsschein, der in Beet-Schala für den 24. Dezember 1916 ausgestellt war und zwar für eine Nacht in Bethlehem. Aha, Weihnachten ortsgetreu.
In Jerusalem kaufte er im Basar ein blaugoldenes sechsteiliges Mocca-Service für seine Braut in Weilheim, Marie Grassler aus Freising, von dem sich ein Tässchen bis heute erhalten hat. Hier ist es. Es steht als Salzbehälter auf meinem Tisch.
Nun zum Kriegsende in Palästina: am 1. Oktober 1918 fiel Damaskus an die arabischen Rebellen, am gleichen Tag marschierten auch die britischen Streitkräfte in der Stadt ein. T.E. Lawrence jedoch fühlte sich seinen arabischen Freunden gegenüber als Verräter, weil er von einem Geheimabkommen gewußt hatte, das den nördlichen arabische Raum in britische und französische Einflusszonen teilen würde.
Am 7. September 1918 erhielt mein Großvater einen vierwöchentlichen Heimaturlaub nach Weilheim, Komma Bayern. Heimat-Urlaub. Aha. Ziel: Konstantinopel
Mitgegebenes Transportgepäck: 80 kg. Marschverpflegung auf 6 Tage.
In Aleppo war er am 13. 9. 1918. Und dann lag er total im Fieber irgendwo in Istanbul und hätte beinahe das Schiff versäumt, wie ich schon erzählt habe. Wir waren so froh, dass unserem Opa nichts passiert war und er lebendig zurück gekommen war.
Am 11. November wurde in Compiegne in Frankreich ein Waffenstillstandsvertrag geschlossen. Einen Tag danach, am 12. November 1918 war die Geburtstunde des deutschen Frauenwahlrechts. Na, endlich!
Wie ging es weiter? Die Weilheimer wollten keinen Arbeiter- und Soldatenrat errichten, aber eine Bürgerwehr wurde aufgestellt. Das war 1919. Und die Revolution? Eisner? Landauer, ihre Ermordungen? Sicher hat mein Großvater davon gewusst, aber was er davon gehalten hat, weiß ich nicht. Wohl nichts Gutes.
Dagegen hat ihm die Inflation weh getan. In seinen Unterlagen finden sich Geldscheine, 6.210 Reichsmark, soviel gespartes Geld, und alles dahin. Ich glaube, dass ihn die Not, der Hunger und die Arbeitslosigkeit nicht so erwischt haben, denn als Elektriker half er, Weilheim zu elektrifizieren, dass alle Haushalte an das Stromnetz der Isar-Amper-Werke angeschlossen wurden. Davon hat er erzählt und dass Weilheim das erste Selbstwähl-Fernsprechamt der Welt in Betrieb. Jawohl, meine Herrn, newahrnet. Geheiratet hat er seine Mari am 22. November 1920. Und am 22. April 1922 ist meine Mutter zur Welt gekommen.
Und da war sie wieder in Ordnung, die Welt, wenigstens eine Zeit lang.