Sieben Einschlaf-Geschichten vom wilden Waldmädchen
1. Walli und Erich Eichörnchen
(Erich hat ein Pumuckl-Temperament)
Walli hat ein tolles Versteck: ein geheimes Baumhaus mitten im Wald. Walli ist ein wildes Waldmädchen. Sie kann unheimlich gut klettern und springen und so laut lachen, dass im Wald die Bäume wackeln.
Wallis Baum hat Äste wie eine Wendeltreppe. Ihr Baumhaus hat Tür und Fenster, drinnen sind ein Teppich und ein Bett. Echt gemütlich! Vor dem Baumhaus kann man sitzen und in die Weite schauen.
Da fliegen zwei Vögel herbei und landen neben dem wilden Waldmädchen. Sie schimpften: „Heute morgen wollte dein Erich uns alle Federn ausrupfen.
Walli ist empört. „Erich!“, ruft sie. „Erich, wo bist du?“
Da hört man von weitem ein Keckern, jemand wirbelt durchs Laub der Bäume, zischt Äste entlang, wippt auf Zweigen, springt und landet, hopp, auf Wallis Schulter. Es ist Erich, ein feuerrotes Eichhörnchen mit buschigem Schwanz. Damit streicht er zart über Wallis Gesicht.
„Was muss ich von dir hören, Erich“, sagt das wilde Waldmädchen. „Du bist ein Vogelfedern-Ausrupfer.“
„Bin ich nicht“, keckert Erich. „Ist ja gar nicht wahr. - Blöde Petzen!“, zischt er die Vögel an. Dann jammert er: „Noch nie hat mir jemand Federn für mein Bett geschenkt. Freiwillig, meine ich. Noch nie.“ Erich schluchzt: „Immer nur harte Tannennadeln oder struppiges Gras für meine Liegestatt. Ach, ich bin ja so ein armes, kleines Eichhörnchen.“
Walli streichelt Erich. „Jetzt hör mal wieder auf! – Weißt du was? Es gibt frische Haselnüsse.“
„Wo?“, will Erich wissen. „Wo, wo, wo?“
„Am Waldrand“, sagt Walli. „Beim Jägersteig.“
Da zischt Erich ab wie ein roter Blitz, und das wilde Waldmädchen lacht so laut, dass die Bäume wackeln. Dann läuft Walli ebenfalls zum Jägersteig, wo die Haselnüsse wachsen: sanftbraun und dick und rund mit grünen Hütchen hängen sie in Büscheln an den Zweigen. Erich knackt sie und mampft das süße Nussfleisch Aber plötzlich hört er auf und sitzt starr da.
„Was ist los?“, fragt Walli.
„Wie soll ich denn die Nüsse für den Winter aufheben?“, rätselt Erich. „Einbuddeln wie im letzten Jahr? Dann finde ich sie immer erst, wenn sie alt und ranzig geworden sind.“
Da hat das wilde Waldmädchen eine Idee: „Du sammelst die Nüsse und wir bringen sie in mein geheimes Baumhaus. Dort kannst du dir immer welche holen.“
Das findet Erich ausgezeichnet. Am Abend haben sie drei große Tüten Nüsse gesammelt und ins Baumhaus hinauf geschleppt. Jetzt sind beide sehr zufrieden und richtig müde.
„Gute Nacht, Erich“, sagt Walli und gähnt. „Komm gut nach Hause und schlaf gut!“
„Kann ich nicht“, jammert Erich. „Ohne Federn ist mein Bett doch so hart und struppig.“
„Dann darfst du heute Nacht bei mir bleiben“, sagt Walli. „Ausnahmsweise.“
„Juhu!“, schreit Erich, springt in Wallis Bett und kuschelt sich an das wilde Waldmädchen. Dann schnattert er: „Gute Nacht und träume süß!“
„Du auch“, Erich“, murmelt Walli und schläft ein.
Draußen rauscht der Wind in den Bäumen und schaukelt Wallis Baumhaus wie eine Wiege.
2. Walli und Berti Bär
Heute ist das Wetter schlecht. Es regnet. Die Tropfen prasseln durch den Baum, sie dringen durch das Baumhausdach und machen alles feucht und ungemütlich.
„Iih“, schreit Erich Eichhorn. Erich ist Wallis Baumhaus-Tier. „Aufhören, blöder Regen! Ääh, wir haben genug von dir.“
„Sei mal still, Erich!“, sagt Walli. „Ich hör was.“
Jetzt hört Erich es auch: Etwas kratzt am Baum, dann knarzen die Äste, die wie eine Wendeltreppe zum Baumhaus hinauf führen. Und schon schiebt sich eine schwarze Schnauze durch die Tür. „Darf ich rein?“
„Nein“, keckert Erich. „Bären bleiben besser draußen.“
Aber da hat sich schon ein junger Bär durch die Tür gequetscht. „Ich bin Berti“, sagt er und schüttelt seinen braunen Pelz. Dabei wird Erich nass gespritzt. Sein rotes Fell klebt an ihm und sein schönes, buschiges Eichhorn-Schwänzchen wird dünn wie ein Pfeifenputzer. Da muss Walli so laut lachen, dass im Wald die Bäume wackeln.
Erich wird wütend. „Blöder brauner Bär!“, schimpft er. „Du bist ja viel zu groß und, und, und viel zu dick.“
„Wirklich?“, brummt der Bär traurig und legt sich auf den Boden.. Da rollt Walli ihn in den Teppich und rubbelt ihn trocken.
„Iih“, schreit Erich. „Um mich kümmert sich wieder mal niemand.“
Während Walli ihr Eichhörnchen trocknet, findet der junge Bär Erichs Haselnüsse und fängt an, sie zu knacken. Die Schalen spuckt er einfach auf den Teppich.
„Das reicht!“, kreischt Erich.
Walli findet das auch. „Bitte, mach wieder sauber!“
Aber Berti Bär mag nicht. „Bei mir zu Hause macht das immer meine Mama“, brummt er.
„Dann geh doch zu ihr“, schreit Erich. „Iih, hau ab!“
Inzwischen hat der Regen aufgehört, und die Sonne blinkt wieder durch die Blätter.
„Danke für deinen Besuch, Berti“, sagt Walli zum kleinen Bären. „Wir begleiten dich nach Hause.“ Sie ist nämlich neugierig, wo Berti Bär wohnt.
Dann laufen sie los, während Erich Eichhorn direkt über ihnen durch die Bäume turnt und fest die Äste rüttelt. Dabei wird das wilde Waldmädchen regentropfennass. Berti Bär auch.
„Iih“, schreit Walli. „Aufhören!“
Jetzt lacht Erich so laut, dass die Zweige wackeln.
Nach einiger Zeit sind sie bei einer Höhle angelangt. „Hier wohne ich“, sagt Berti Bär. „Und meine Mama auch.“ Die große Bärin freut sich, dass ihr Kleiner wieder da ist. „Tschüss, Walli! Wiedersehen, Erich“, sagt Berti und kuschelt sich an seine Mama.
„Mach’s gut, Kleiner“, keckert Erich, springt auf Wallis Schulter und läßt sich von ihr nach Hause tragen.
Plötzlich hätte das wilde Waldmädchen auch so gerne eine Mama.
„Du hast doch mich“, meint Erich.
„Ja“, sagt Walli und seufzt.
Als es dunkel wird, gehen das wilde Waldmädchen und ihr Eichhörnchen im Baumhaus zu Bett.
„Gute Nacht und träume süß“, schnattert Erich leise in Wallis Ohr.
„Du auch, Erich“, murmelt Walli und schläft sie ein.
Draußen rauscht der Wind in den Bäumen und schaukelt Wallis Baumhaus wie eine Wiege.
3. Walli findet Ama Yaga
Gestern hat Walli entdeckt, was für eine nette Mutter Berti Bär hat. Heute will sie auch eine Mama haben. „Ich such mir einfach eine“, sagt das wilde Waldmädchen. „Kommst du mit, Erich?“ Aber Erich, Wallis Eichhörnchen, hat heute keine Zeit. Da macht sich das wilde Waldmädchen alleine auf den Weg. Sie läuft zuerst beim Jägersteig vorbei, dann springt sie über den Bach und wandert weiter bis zum Weiher, wo der Wind im Schilf raschelt. Jetzt kommt ein Buchenberg, den klettert Walli hinauf. Sie schnuppert. Es riecht nach Rauch. Ah, da schwebt er wie ein blauer Schleier über dem nächsten Tal.
Walli schleicht sich lautlos an und entdeckt ein Lagerfeuer, über dem ein rußiger Kessel hängt. Eine Frau mit wilden, schwarzem Lockenhaar rührt darin um. Das ist Ama Yaga, die wilde Räuberfrau. Sie herrscht über vierzig Räuber, die sich alle um den Suppenkessel drängeln.
„Der Reihe nach“, ruft Ama Yaga. „Und vor dem Essen Hände waschen. Wie oft muss ich das noch sagen?“
Da murren und knurren die Räuber, aber sie gehen rüber zur Quelle und waschen sich ihre dreckigen Pfoten, Walli auch. Dann stellt sie sich als Letzte in die Reihe vor dem Suppenkessel. Als sie endlich dran ist, gibt ihr Ama Yaga den letzten Schöpflöffel Suppe. Die vierzig Räuber schlürfen und schmatzen. Zum Schluss rülpsen sie, dass hallt und schallt im Wald. Da muss Walli so laut lachen, dass die Bäume wackeln.
„Du gefällst mir“, sagt Ama Yaga und umarmt Walli wie eine Bärenmutter. Ihr wildes, schwarzes Lockenhaar riecht nach Wald und Rauch. So gut!
„Du gefällst mir auch“, sagt Walli. „Magst du meine Mutter sein?“
„Warum nicht“, sagt Ama Yaga und lacht. „Ich hätte gerne eine Tochter, die ein wildes Waldmädchen ist.“
„Wunderbar“, sagt Walli und gibt ihr einen Kuss.
„Hurra!“, rufen die vierzig Räuber. „Jetzt haben wir eine kleine Schwester.“ Sie spielen mit Walli Bockspringen, Verstecken, Ochs-am-Tor-schau-um!, Gummi-Twist, und Wer-am-längsten-schauen-kann,-ohne-zu-blinseln.
Plötzlich ruft die wilde Räuberfrau: „Zeit zum Schlafen!“
„Was, jetzt schon?“, murren die Räuber. „Wo es gerade so lustig ist.“
„Ihr müsst morgen früh raus und zum Räubern gehen“, sagt die wilde Räuberfrau streng. „Seid vernünftig!“
Die Räuber trödeln noch ein bisschen rum, dann steigen neununddreissig in ihre Hängematten zwischen den Bäumen. Der vierzigste und jüngste Räuber gibt seine Hängematte Walli. Sie hängt direkt neben der von Ama Yaga. Da darf heute Nacht das wilde Waldmädchen drin schlafen. Walli hilft dem jüngsten Räuber beim Laubsammeln. Sie bauen für ihn ein schönes, weiches Bett am Boden. Dann kommt Ama Yaga und gibt Walli einen Gutenacht-Kuss. „Träum schön, mein wildes Waldmädchen!“
„Du auch“, murmelt Walli, dann schläft sie ein. Der Wind rauscht durch die Bäume im Tal der Räuber und Walli schaukelt ihre Hängematte sanft wie eine Wiege.
4. Walli und der Wilderer
Walli, das wilde Waldmädchen, wacht ein einer Hängematte im Tal der Räuber auf. Ihre neue Mutter, Ama Yaga, die wilde Räuberfrau, hat schon Frühstück gemacht. Es gibt Quellwasser und Waldhonigbrot. Mmh, das schmeckt.
„Ich glaube, heute geh ich Pilze sammeln“, sagt Walli. „Im Wald dort drüben.“
„Dort wohnt der Förster“, sagt Ama Yaga.
„Aha“, sagt Walli. „Dem geh ich besser aus dem Weg. Schließlich bin ich ein ganz geheimes wildes Waldmädchen.“
Ama Yaga lächelt und nickt. „Hier hast du einen Korb zum Pilzesammeln.“
Mit Pilzen kennt sich Walli aus. Sie weiß, welche gut sind und welche giftig. Im Wald rieselt das Sonnenlicht schräg durch die Stämme, es duftet nach Tannennadeln und Moos. Juhu, da sind Steinpilze mit den sanftbraunen, runden Kappen. Und alle kerngesund, stellt Walli fest.
Plötzlich hört sie ein Scharren und Winseln. Es kommt vom Pfad her, vom schmalen Wildwechsel. Walli richtet sich vorsichtig auf und entdeckt einen Fuchs, dessen Vorderpfote in einer eisernen Falle steckt. Vor Schmerz zeigt er die Zähne. Wallis Herz tut weh, und gleichzeitig fühlt sie einen wilden Zorn. Sie kniet sich neben den Fuchs nieder. „Ich tu dir nichts“, sagt sie und biegt mit voller Kraft die Falle auf. Da ist der Fuchs wieder frei.
„Danke“, ächzt er und will davonhumpeln.
„Warte noch!“, sagt Walli und macht dem Fuchs einen Blätterverband. Kaum ist sie damit fertig, hören sie Schritte.
„Der Förster“, flüstert Walli.
„Nein, der Wilderer“, knurrt der Fuchs.
Walli klettert geschwind auf einen Baum, während der Fuchs hinter den Brombeeren in Deckung geht.
Der Wilderer trägt einen Strick und einen Sack über der Schulter. „Hähä“, lacht er. „Ich werde dem Fuchs das Fell über die Ohren ziehen und es für gutes Geld verkaufen.“
„Wirst du nicht“, schreit Walli und springt dem Wilderer von oben direkt auf den Kopf. Das hält er nicht aus und fällt um. Walli zieht ihm blitzschnell den Sack über den Kopf und fesselt ihn an den Baum.
„Lass mich frei!“, brüllt der Wilderer. „Sonst, sonst ...“
„Was sonst?“, fragt Walli.
„Sonst sag ich es deiner Mutter“, brüllt der Wilderer.
Da muss Walli so laut lachen, dass im Wald die Bäume wackeln. „Meine Mutter ist Ama Yaga, die wilde Räuberfrau“, ruft sie.
Mit der will der Wilderer wirklich nichts zu tun haben.
„Ich werde es dem Förster sagen“, ruft Walli, „dass du Fallen aufstellst und Tiere quälst.“
Und da kommt der Förster auch schon vorbei. Er hat vom Jägersteig aus mit dem Fernglas alles beobachtet. „Vielen Dank, wildes Waldmädchen“, sagt er zu Walli. „Das hast du gut gemacht.“
„Verflixt“, knurrt der Wilderer. Jetzt muss er ins Gefängnis.
Walli packt die Steinpilze in den Korb und bringt sie Ama Yaga zum Räubersuppe kochen. Dann läuft das wilde Waldmädchen zu ihrem geheimen Baumhaus mitten im Wald, wo schon Erich, das Eichhörnchen, auf sie wartet.
„Gute Nacht und träume süß!“, schnattert er leise.
„Du auch“, murmelt Walli und schläft ein.
Draußen rauscht der Wind in den Bäumen und schaukelt Wallis Baumhaus wie eine Wiege.
5. Walli und Nelli Nixe
Heute ist es so heiß wie im Hochsommer. Walli will zum Baden gehen. Sie wandert am Jägersteig vorbei, den kleinen Bach entlang bis zum Waldweiher, wo der Wind leise im Schilf raschelt. Sonst ist alles still und wie verzaubert. Die Frösche sind zu faul zum Quaken. Nur ein paar Libellen zickzacken lautlos über das Wasser und weiße Seerosen glänzen in der Mitte.
Aber was ist das? Eine der Seerosen hebt sich vom Wasser hoch und darunter kommt ein Mädchenkopf mit langen, nassen Haaren zum Vorschein. Das ist die Waldweiher-Nixe. Sie heißt Nelli und will mit Walli spielen. „Wetten, du kannst nicht so schnell schwimmen wie ich“, sagt sie. Doch da kennt sie das wilde Waldmädchen schlecht. Walli springt ins Wasser und krault, das die Seerosenblätter schwappen. Aber Nelli ist schneller.
„Das ist kein Kunststück“, sagt Walli. „Schließlich bist du eine Nixe.“ Dann legt sie sich ans Ufer zum Trocknen, und Nelli dümpelt im flachen Wasser. Da hören sie von weitem ein Keckern, jemand wirbelt durch die Bäume und zischt die Äste entlang. Es ist Erich, Wallis feuerrotes Eichhörnchen. Jetzt wippt er auf den Zweigen einer Weide, die am Ufer steht. „Warum hast du mich nicht mitgenommen?“, fragt er empört.
„Du magst doch nicht baden,“ sagt Walli. „Weil du wasserscheu bist.“
„Iih, stimmt gar nicht“, keckert Erich.
„Doch“, sagt Walli. „Das weiß ich genau.“
Da klettert Erich die biegsamen Weidenzweige so weit hinunter, dass er dicht über dem Teich hängt. „He“, kreischt er. „Da ist noch ein Eichhörnchen im Wasser.“
„Du Dummerle“, lacht Walli. „Das ist doch dein Spiegelbild.“
In diesem Moment packt etwas das Eichhörnchen und zieht es unter Wasser. Platsch, flutsch, futsch.
„Erich!“, schreit Walli entsetzt, springt in den Weiher und taucht. Nelli Nixe taucht auch, aber weder sie noch Walli können etwas sehen, weil dichte, grüngraue Schlammwolken im Wasser wirbeln. Walli kommt wieder hoch, holt tief Luft und taucht erneut. Da sieht sie Nelli Nixe auf sich zukommen. Sie hat etwas Rotes in den Händen. Erich! „Ich hab ihn einem Hecht abgejagt“, keucht Nelli. „So einem gierigen Kerl.“
„Danke“, sagt Walli, schwimmt ans Ufer und schüttelt Erich das Wasser aus dem Leib.
Bald ist er wieder am Leben. „Ich hab’s ja gewußt“, japst er: „Baden ist gräßlich!“
Da lacht Nelli Nixe, dass im Weiher die Wellen tanzen. Walli lacht so laut, dass die Weide am Ufer wackelt.
Dann verabschieden sie sich voneinander, und Walli trägt den erschöpften Erich nach Hause. Im geheimen Baumhaus angekommen, legt sie ihn ins Bett und deckt ihn ordentlich zu. Dann streicht sie ihrem Eichhörnchen über die Stirn und flüstert: „Schlaf gut und träume süß!“
„Mach ich“, murmelt Erich und gähnt: „Uuah.“ Draußen rauscht der Wind in den Bäumen und schaukelt Wallis Baumhaus sanft wie eine Wiege.
6. Walli und die Hollerhexe Hulda
Die Sonne wacht jeden Tag ein bisschen später auf. Walli auch. Heute hängt Nebel in der Luft. Der Wald sieht fremd aus und geheimnisvoll. Walli beschließt, heute etwas zu entdecken. Sie schlüpft sie aus ihrem Baumhaus und klettert hinunter, läuft am Jägersteig vorbei, den kleinen Bach entlang und dann, dann kennt sie sich plötzlich nicht mehr aus. „Verflixt, jetzt hab ich mich verirrt“, sagt Walli.
„Hähähää!“ kreischt ein Eichelhäher.
„Halt den Schnabel!“, ruft Walli.
„Hähähää!“ Der Eichelhäher regt sich immer noch auf. „Da kommt eine Fremde.“
„Nein“, sagt jemand. „Keine Fremde, sondern Besuch.“ Eine kleine alte, kugelrunde Frau tritt hinter einem Hollerbusch hervor. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit weißen Sternchen und schaut Walli freundlich an. „Ich bin die Hollerhexe Hulda“, sagt sie.
„Ich hab gar nicht gewußt, dass es hier eine Hollerhexe gibt“, wundert sich Walli. „Aber jetzt hab ich dich entdeckt.“
„Hähähää!“, krächzt der Eichelhäher.
„Bringst du mir bei, wie man hext?“, fragt Walli.
Die Hexe Hulda nickt. „Ja, wenn du mir beim Brombeerpflücken hilfst. Ich will heute Marmelade kochen.“
„Kannst du denn keine Marmelade hexen?“, fragt Walli verwundert.
„Doch“, sagt Hulda. „Aber sie schmeckt nicht so gut wie selbst gemachte.“
Inzwischen hat die Sonne den Nebel aufgeschleckt. Hell und warm scheint sie auf die Brombeerhecken am Waldrand. Hulda hat einen Eimer dabei, in den werfen sie die reifen Brombeeren.
„Au“, stöhnt Walli. Sie hat sich an den Dornen gerissen. Es blutet sogar ein bisschen. „Du musst es sofort heil hexen!“, sagt Walli wehleidig.
Aber Hulda meint, dass man so einen kleinen Kratzer schon aushalten kann.
Da tut das wilde Waldmädchen Spucke darauf, und bald ist der Kratzer vergessen.
Endlich ist der Brombeer-Eimer voll. Walli begleitet die Hollerhexe Hulda zu ihrer Hütte.
Jetzt wird der Ofen eingeheizt. Die Hexe schnippt mit den Fingern. Da springen die Holzstücke von selbst in den Ofen. Flämmchen flackern hoch und tanzen auf den Scheiten. Bald bullert es, und der Herd wird heiß. Hulda schüttet die Brombeeren in ihren blauen Hafen, kippt Zucker hinein und befielt dem Kochlöffel fest zu rühren. Aber der tut es nicht.
„So ein fauler Kerl“, seufzt die Hexe.
Da nimmt Walli den Kochlöffel und rührt fest um, damit die Brombeermarmelade nicht anbrennt. Hulda freut sich, wie fleißig das wilde Waldmädchen ist. Danach kommt die heiße Marmelade in saubere Gläser, zuschrauben und fertig.
Walli ist auch fertig, fix und fertig.
Hulda macht ihr noch ein Brombeermarmeladebrot und dazu eine Tasse Hexenkakao. Dann darf sich das wilde Waldmädchen auf das alte Hexensofa legen. Hulda streicht Walli übers Haar und sagt: „Gute Nacht und träume süß!“
„Du auch“, murmelt Walli und schläft ein.
Draußen rauscht der Wind in den Bäumen und gelbe Blätter trudeln durch die Dämmerung.
7. Das Sonntags-Picknick
Walli hat ein tolles Versteck: ein geheimes Baumhaus mitten im Wald. Walli ist ein wildes Waldmädchen. Sie kann unheimlich gut klettern und springen und so laut lachen, dass im Wald die Bäume wackeln.
Heute ist Sonntag. Walli schläft noch, aber Erich ist schon wach. Erich ist ein feuerrotes Eichhörnchen und Wallis Baum-Haustier. „Walli, wach auf!“, keckert Erich. „Unten am Boden ist was los.“
„Was denn?“, murmelt Walli verschlafen.
„Da sind ein Haufen Leute“, ruft Erich.
Jetzt wird Walli neugierig. „Leute? Wer denn?“
„So eine schöne Frau mit vielen schwarzen Locken“, sagt Erich.
„Das ist ja Ama Yaga“, sagt Walli, „meine Mutter, die wilde Räuberfrau. Juhu!“
„Und wer ist der Typ mit dem Fernglas?“, will Erich wissen. „Er glotzt deine Mutter so verliebt an.
Walli steckt den Kopf zum Baumhaus raus. „ Der Förster“, ruft sie. „Vielleicht wird der bald mein neuer Papa.“
Plötzlich kommt etwas die Baumhaus-Treppe herauf. Es ist Berti, der junge Bär. „Hallo, kommst du runter?“, fragt er das wilde Waldmädchen. „Wir warten schon auf dich.“
„Iih“, kreischt Erich. „Auf mich wartet wieder niemand.“
„Dummerle“, sagt Walli. „Ich warte auf dich. Kommst du mit?“ Dann klettert sie den Baum hinunter.
„Hallo, Süße“, sagt Ama Yaga und gibt Walli einen Guten-Morgen-Kuss. „Kommst du mit zum Picknick?“
„Au ja“, ruft Walli. Picknick machen ist ihre Lieblingsbeschäftigung am Sonntag. Dann gibt sie dem Förster höflich die Hand. „Wirst du mein neuer Papa?“, fragt sie ihn.
Der Förster wird rot. „Warum nicht“, meint er. „Wenn mich deine Mutter heiraten will.“
Ama Yaga lacht. „Gerne“, sagt sie. „Dann machen wir eben ein Verlobungs-Picknick.“
Nun ziehen alle zum Waldweiher, damit Nelli Nixe auch dabei sein kann.
„Hallo, Erich“, begrüßt sie Wallis Eichhörnchen. „Willst du mit mir eine Runde schwimmen?“
„Brrr!“ Erich schüttelt sich. „Lieber nicht, sonst kommt wieder ein Hecht.“
Inzwischen hat Ama Yaga am Ufer eine Decke ausgebreitet und das Picknick ausgepackt. Es gibt gebratene Hühnerbeine, riesige Räuberbrezen und Waldmeisterlimonade.
„Mhm, köstlich“, sagen alle und mampfen das Verlobungs-Picknick. Dann machen die Großen ein Nickerchen. Der Förster schnarcht so, das im Weiher das Schilf raschelt. Da muss Walli so laut lachen, dass die Weide am Ufer wackelt.
Da tritt die kleine alte, kugelrunde Hollerhexe Hulda aus dem Wald. Sie hat Brombeermarmelade mitgebracht. Gerade recht zum Nachtisch.
Als es dunkel geworden ist, betrachten alle die Sterne. Hulda schnippst mit den Fingern. Da fangen die Sterne an zu tanzen. Sie glühen und sprühen, es ist ein himmlisches Feuerwerk.
„Wunder-wunderschön!“, sagt Walli zufrieden und gähnt.
„Zeit zum Schlafen“, meint Ama Yaga. „Leg deinen Kopf auf meinen Schoß.“
„Und träume süß“, sagt Hulda und streicht Walli übers Haar.
„Und ich?“, keckert Erich. „Mich liebt wieder mal niemand.“
„Komm zu mir“, sagt Walli und streichelt ihr Eichhörnchen. Dann schlafen sie ein.
Der Wind rauscht durch die Weide und der Waldweiher glitzert im sanften Licht des Mondes.